Georg Lilienthal: NS-"Euthanasie"-Verbrechen
Vor 25 Jahren wurde in der ehemaligen Tötungsanstalt Hadamar eine Gedenkstätte für Opfer der NS-"Euthanasie"-Verbrechen eingerichtet. Hier fielen zwischen 1941 und 1945 15.000 Menschen den NS-"Euthanasie"-Verbrechen zum Opfer. Heute besuchen jährlich 14.000 vor allem junge Menschen unsere Gedenkstätte. Sie umfaßt die ehemalige Gaskammer, den früheren Sektionsraum, den Krematoriumsraum, die ehemaligen T4-Busgarage und den alten Anstaltsfriedhof, auf dem 3.500 "Euthansie"-Opfer in Massengräbern verscharrt wurden.
Die Verfolgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen begann in Deutschland mit ihrer Diffamierung als "minderwertig" durch die Lehre der Eugenik und Rassenhygiene Ende des 19. Jahrhunderts, führte ab 1934 über die Zwangssterilisation von 300.000 bis 400.000 Menschen und gipfelte mit Beginn des Zweiten Weltkriegs in der systematischen Ermordung von Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten. Eine eigens eingerichtete Verwaltung, die später nach ihrem Standort in der Tiergartenstr. 4 in Berlin T4-Zentrale genannt wurde, organisierte den Krankenmord. Anhand von Meldebögen, die an die Heil- und Pflegeanstalten verschickt wurden, wählten ärztliche T4-"Gutachter" die Patienten zur Tötung aus. Wichtigstes Selektionskriterium war die Arbeitsunfähigkeit. Die für den Tod bestimmten Patienten wurden in sechs von der T4-Zentrale eingerichtete Tötungsanstalten (Brandenburg, Bernburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Pirna-Sonnenstein) transportiert. Wenige Stunden nach ihrer Ankunft starben sie in einer als Duschraum getarnten Gaskammer. Ihre Leichen wurden sofort an Ort und Stelle in Krematorien verbrannt. Die Angehörigen erhielten Benachrichtigungen und Sterbeurkunden mit falschen Sterbedaten. Aufgrund einer Anordnung Hitlers vom 24. August 1941, die vor allem auf den Protestpredigten des katholischen Bischofs von Münster Clemens August Graf von Galen beruhte, wurden die Gasmorde eingestellt. In der Zeit von Januar 1940 bis August 1941 starben 70.000 Menschen in den Gaskammern der sechs Tötungsanstalten.
Der Stopp der Gasmorde bedeutete aber nicht das Ende der "Euthanasie"-Verbrechen. Die Morde wurden in einer anschließenden zweiten Phase nicht mehr in ausschließlicher Verantwortung der T4-Zentrale in Berlin, sondern häufig in Verantwortung regionaler Instanzen durchgeführt (sog. dezentrale, regionale oder kooperative "Euthanasie"). Dabei wurden die Patienten in zahlreichen Heil- und Pflegeanstalten mit Hilfe von überdosierten Medikamenten, nährstoffarmer Kost oder Vorenthaltung der medizinischen Versorgung getötet. Neben diesen beiden Phasen der "Euthanasie"-Morde gab es noch weitere Mordaktionen, die zum Teil bis Kriegsende andauerten. Z. B. wurden in der so genannten "14f13"-Aktion KZ-Häftlinge, darunter viele jüdische Gefangene, u. a. aus Buchenwald, Dachau, Ravensbrück oder Mauthausen in die Tötungsanstalten Bernburg, Hartheim und Pirna transportiert, als es in den Konzentrationslagern noch keine Einrichtungen für den Massenmord gab. Die "Euthanasie"-Verbrechen forderten zwischen 1939 und 1945 im damaligen Deutschen Reich 200.000 Menschenleben.
Der Holocaust begann für die Juden nicht in den KZs und Vernichtungslagern des Ostens, sondern in den T4-Tötungsanstalten Deutschlands. Im Sommer und Herbst 1940 und im Februar 1941 wurden im Verlauf von Sonderaktionen zwischen 1000 und 2.500 jüdische Anstaltspatienten in den Tötungsanstalten Brandenburg und Hadamar ermordet. Die Gasmordaktion von 1940 und 1941 war die Vorstufe und Erprobungsphase für den Holocaust. In denT4-Tötungsanstalten wurde die Organisation des Massenmordes entwickelt: Die Täuschung der Opfer über den Zweck der Verlegung aus ihren Anstalten, die Tarnung der Gaskammer als Duschraum, der Massenmord durch Gas, das Herausbrechen der Goldzähne, die sofortige Verbrennung der Leichen in Krematorien und zum Schluß die Täuschung der Angehörigen über die Umstände des Todes ihres Familienmitgliedes. Nachdem die Gasmorde eingestellt worden waren, wurde das im Massenmord erprobte Personal 1942 nach Polen in die Vernichtungslager der "Aktion R" geschickt.
Nach dem Krieg wurde von dem Personal, das an den verschiedenen Mordaktionen beteiligt war, nur ein kleiner Teil vor Gericht gestellt. Und von den angeklagten Frauen und Männern konnten sich die meisten einer Verurteilung entziehen mit dem Argument, sie hätten nur auf Anordnung von Vorgesetzten gehandelt, das Unrecht ihres Handeln hätten sie nicht erkennen können, weil hochangesehene Ärzte und Juristen beteiligt waren und ein "Euthanasie"-Gesetz vorgelegen habe.
Die Opfer der Psychiatrie-Verbrechen wurden in der Bundesrepublik nicht als NS-Verfolgte anerkannt und sind es bis heute nicht vollständig. Sie selbst und ihre Familien schwiegen jahrzehntelang aus Furcht und Scham, weiterhin als "minderwertig" angeprangert zu werden. Erst seit einigen Jahren brechen Angehörige das Schweigen und recherchieren nach dem Schicksal ihrer ermordeten Familienangehörigen. Gleichzeitig erkennen Erinnerungsinitiativen zunehmend, daß auch die Opfer der NS-Psychiatrie zu den Opfern der NS-Verfolgung zählen. Zur aktuellen Politik der Integration psychisch kranker und geistig behinderter Menschen gehören auch die öffentliche Anerkennung ihrer Verfolgungsgeschichte und ihre Einbindung in die Gedenkarbeit.